Time to see religion die
Dieser Text stammt aus einer Predigt zum Thema "Time to see religion die"
bzw. "Losing my religion" von der Churchnight in Laichingen vom 31.10.2022.
Losing my religion.
Ein Song von REM als Predigtthema? Das kannst du doch besser, Mane. Mein Arbeitstitel war aus einem Song von Brian Welch. Den kennen manche von euch vielleicht als Gitarristen von Korn (rechts). Da heißt es: “It’s time to see religion die”. Also “Es ist Zeit, Religion sterben zu sehen”. Ich bin als junger Christ auf Brian Welch gestoßen, hab seine Autobiografie gelesen und stieß darin auf diesen Song. Der hat mich erst mal sehr herausgefordert.
Darum geht’s doch irgendwie, oder? Religion, Gott, Jesus, das gehört doch irgendwie zusammen.
Der Song beginnt mit den Zeilen:

I'm sick of all your rules
They're so man made
You treat them all like fools
You put my name to shame
Ich hab deine Regeln satt
Sie sind menschengemacht
Du behandelst sie wie Idioten
Und beschämst meinen Namen.
Das beschreibt für mich ganz gut, was Religion ist. Religion ist ganz oft so weit weg von dem, wie Gott ist, wie Gott will, dass wir handeln. Religiös zu sein ist, Regeln und Rituale zu halten. Und versteht mich nicht falsch. Rituale können super wertvoll sein. Ich hab auch so Dinge. Zum Beispiel: Ich trage meist dieses Kreuz. Und wenn ich das abends abnehme, dann küsse ich es oft kurz. Das allein bringt mich nicht näher zu Gott. Der Unterschied ist in dem, was dahinter liegt. Für mich ist dieses Ritual ein kleines Danke sagen an Gott. Dieses Ritual erinnert mich vielmehr daran, was ich Gott zu verdanken habe. Das ist der Unterschied. Religion müht sich ab, zu Gott zu kommen, aber Gott selbst kam bereits zu uns. In Jesus, der am Kreuz gestorben ist.
Mir geht es gar nicht darum, die Kirche als Institution zu verändern oder gar nieder zu reißen. Ich verhalte mich selbst in manchen Situationen wie ein religiöses Arschloch, und das kotzt mich tierisch an. Auch ich habe Dinge, wo ich meine eigenen Regeln befolge und nicht nach Gottes Wille handle. Situationen, wo ich Menschen verurteile. Weil sie anders sind. Anders aussehen. Anders reden. Weil sie andere Meinungen haben, in Fragen wo es für mich nur eine richtige Position gibt. Deshalb geht es mir vielmehr darum, mich selbst zu verändern und meinen Blick auf Menschen. Mich begleitet dieser Konflikt zwischen Glauben und Religion seit ich mit 16 Christ geworden bin.
Deshalb möchte ich mit euch eine Stelle aus dem Markus-Evangelium anschauen, in der Pharisäer Jesus aufsuchen, um Streit mit ihm anzufangen.
Pharisäer sind Schriftgelehrte, also schlaue, religiöse Leute, die eine ganze Menge an Regeln und Gesetzen lehren. Die haben zum Beispiel auch eine Vorschrift, die angibt, wie viele Schritte ein Jude am Sabbat (das ist der “Sonntag” der jüdischen Woche) gehen darf. Viele dieser Regeln funktionieren wie eine Art Firewall. Die sollen einfach einen gewissen Sicherheitsabstand zu dem herstellen, was in den Gesetzbüchern im Alten Testament steht.
Ihr könnt das ein bisschen vergleichen mit jemandem, der auf einer Landstraße unterwegs ist, aber konsequent nicht 100 km/h, sondern 70 fährt. Zwar sind 100 erlaubt, aber wenn ich nur 70 fahre, dann komm ich gar nicht erst in Versuchung, schneller als 100 zu werden.
Diese Leute kommen aus Jerusalem, dem Zentrum des Judentums, zu Jesus und seinen Jüngern. Da sehen sie, dass die Jünger essen, ohne sich die Hände gewaschen zu haben. In unseren Zeiten vielleicht genauso unvorstellbar wie für die Pharisäer damals. Es geht bei dieser Beobachtung aber nicht um Hygiene. Vielmehr geht es um eine zeremonielle Reinigung. Darüber gerät Jesus in Streit mit diesen Schriftgelehrten.
An einem Beispiel demonstriert Jesus diesen schlauen Leuten, wie sie ihre eigenen Lehren über die Gebote Gottes stellen. Dann erklärt Jesus etwas ganz Zentrales für den christlichen Glauben: Der Mensch kann nicht aus eigener Kraft zu Gott kommen. Aus diesem Abschnitt möchte ich drei Punkte herausstellen, die zeigen, was mich oft an Religion stört ist, wie Jesus dazu steht und was das grundsätzlichere Problem ist.
2) Ausgeschlossen (Vers 5)
Die Pharisäer und die Schriftgelehrten fragten Jesus: »Warum halten sich deine Jünger nicht an die Vorschriften der Vorfahren? Warum essen sie das Brot mit unreinen Händen?«
Was werfen die Pharisäer den Jüngern vor? Dass sie Gottes Gebote nicht halten? Nein. Sondern dass sie nicht das halten, was sie und ihre Vorfahren (die übrigens alle Menschen waren) lehren und lehrten. Es sind einfach nur reine, menschengemachte, religiöse Traditionen, ohne Grundlage in Gottes Wort.
Und das wissen sie.
Wisst ihr, religiöse Traditionen haben eine große Gefahr: sie können dazu führen, dass wir uns nur noch darauf konzentrieren, was wir als religiöse Handlungen überliefert bekommen haben, und darüber hinaus vergessen, worum es wirklich geht. Jesus hat erst mal kein Problem damit, dass sich die Pharisäer an ihre Überlieferungen halten. Ihm geht es um etwas anderes. Jesus Problem liegt darin, wie die Pharisäer sich mit ihren frommen Regeln und Überlieferungen sich am eigentlichen Willen Gottes vorbeimogeln.
Ich kenne Gemeinden, die eine sehr, sagen wir ablehnende, Haltung zu z.B. Tattoos und Piercings haben. Da bist du manchmal nicht sonderlich willkommen. Da bekommst du zum Beispiel gesagt, dass du lieber nicht mehr wiederkommen sollst, wenn du als Mann einen Ohrring trägst oder lange Haare hast. Und keine Ahnung, ob ihr das kennt, aber oft wird dann eine Stelle aus 3. Mose zitiert, in der es heißt: “Ihr sollt um eines Toten willen an eurem Leibe keine Einschnitte machen noch euch Zeichen einritzen; ich bin der HERR.” Das Problem dabei ist, dass sie dabei diesen Vers aus seinem kulturellen und historischen Kontext reißen, und ihn so zu einer Regel erheben, die sie selbst gemacht haben. Ganz anders, wie Jesus hier das Alte Testament benutzt. Jesus demonstriert hier sehr gut, wie man die Bibel anwenden sollte: Nämlich ohne den Kontext zu verlieren. Jesus zitiert Jesaja, aus Kapitel 29, Vers 13.
Der Herr hat gesagt: »Dieses Volk behauptet, mir nahe zu sein, und ehrt mich mit Worten. Aber mit dem Herzen ist es fern von mir. Seine Ehrfurcht vor mir ist nur angelernt, sie beruht auf menschlichen Vorschriften.
Damals sprach Jesaja zu den Israeliten, mit denen Gott genau dasselbe Problem hat, das Jesus mit den Pharisäern hat: Sie hielten sich an den Überlieferungen ihrer Vorfahren, aber arbeiten damit am eigentlichen Willen Gottes vorbei.
3) Ausgetauscht (Vers 9 - 13)
Weiter sagte er zu ihnen: »Ihr seid sehr geschickt darin, Gottes Gebote für ungültig zu erklären. So setzt ihr eure eigenen Vorschriften in Kraft. Denn Mose hat gesagt: ›Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren und für sie sorgen!‹ Weiter heißt es: ›Wer Vater oder Mutter verflucht, soll mit dem Tod bestraft werden.‹ Ihr dagegen behauptet: Wenn jemand zu Vater und Mutter sagt: ›Korban‹ – das bedeutet: ›Die Unterstützung, die ich euch schulde, soll dem Tempelschatz zugutekommen‹ –, dann braucht er für seine Eltern nichts mehr zu tun. So setzt ihr das Wort Gottes außer Kraft durch eure eigenen Vorschriften, die ihr weitergebt. Und so macht ihr es immer wieder.«
Für viele jüdische Lehrer zur Zeit von Jesus war das Gebot Vater und Mutter zu ehren das Wichtigste der Zehn Gebote. Wir sehen in dieser Geschichte aber, wie sie trotzdem einen Weg geschaffen haben, das Gebot zu brechen. Diese Inkonsequenz greift Jesus an.
Die Schriftgelehrten halten das Gebot Mutter und Vater zu ehren hoch, aber ermöglichen es sich durch ihre eigenen Traditionen, das Gesetz legal zu brechen, sozusagen. Dabei ist es ja eigentlich nichts Schlechtes, Abgaben an den Tempel zu entrichten. Bei uns gibt es ja auch spenden, sei es für Kirchen oder andere Dinge. Nur schießen die Pharisäer hier stark übers Ziel hinaus. Und ich denke ihr seht auch, wie kaputt dieses Konstrukt ist. Ein Gesetz, das schon die Anleitung enthält, wie es zu brechen ist, ist am Ende nix Wert.
Ein gutes Beispiel dafür ist, finde ich, die Frage, welche Bibel wir lesen. Die meisten von euch haben wahrscheinlich irgendwann in ihrem Leben, z.B. zur Konfirmation, eine Bibel bekommen, oft wird es eine Übersetzung sein, die Gute Nachricht heißt. Jetzt gibt es Leute, wie mich, die gerne andere Übersetzungen benutzen, weil sie weniger frei übersetzt sind, das heißt genauer an dem sind, was die Autoren ursprünglich geschrieben haben. Ein paar von euch kennen das, wenn ich z.B. auf Freizeiten oder im Jugendkreis aus meiner Bibel vorlese. Das hört sich dann sehr alt und geschwollen an.
Lange war ich der Ansicht, dass wir nur solche “altbackenen” Bibelübersetzungen lesen sollten, weil wir nur dann herausfinden können, wie ein Text eigentlich gemeint ist. Alle, die andere Bibeln lesen, haben ein Problem.
Ich bin aber zu einer Einsicht gelangt: Am Ende ist es relativ egal, welche Bibel du benutzt. Die beste Ausgabe ist die, die du liest.
3) Ausgeschieden (Vers 17 – 23)
Jesus erklärt seinen Jüngern, was er versucht hat, den Pharisäern klar zu machen: Reinheit kommt nicht von außen.
Warum ist Reinheit so wichtig für die Pharisäer? Weil Unreinheit vor Gott keinen Bestand hat. Unreine Dinge können nicht in Gottes Gegenwart existieren. Jesus aber sagt: Nicht äußere Einflüsse verhindern, dass wir Gott nahe sein können. Sünde verhindert, dass wir rein werden.
Und Sünde heißt nicht, ein Stück Kuchen zu viel zu essen, oder unpassende Schuhe zum falschen Pulli tragen. Sünde heißt, getrennt von Gott zu sein. Sünde ist menschlich. Sie kommt aus unserem Herzen. Was uns von Gott trennt, ist keine äußerliche Erscheinung, sondern entstammt aus unseren Entscheidungen. Das meint Jesus wenn er sagt:
»Das, was aus dem Menschen herauskommt, das macht den Menschen unrein. Denn alle bösen Gedanken kommen von innen, aus dem Herzen des Menschen …. Alle diese bösen Dinge kommen aus dem Inneren des Menschen und machen ihn unrein.«
Reinheit ist ein moralisches Problem. Sie hat den Ursprung in uns, in unseren Entscheidungen. Deshalb können wir auch nicht von selbst rein werden. Ganz egal wie sehr wir uns anstrengen. Ganz egal, wie viele Gebote und Regeln wir einhalten. Und das ist das Problem der Pharisäer.
Alle ihre Vorschriften versuchen, den Menschen von außen “rein” zu machen. Sie können den Menschen nicht von innen heraus verändern. Deshalb dienen sie nur dazu, sich von anderen abzuheben, andere zu verurteilen, wenn sie anders leben.
Nochmal: Es ist nicht falsch, Regeln zu haben. Wenn Regeln dazu führen, dass wir Andere verurteilen, oder uns davon abhalten, ihnen in Liebe zu begegnen und Gemeinschaft mit ihnen zu haben, dann haben wir ein Problem. Dann werden wir religiös. Und das ist nicht das, was Gott will.
“Ich gebe euch ein neues Gebot: Liebt einander! Genauso wie ich euch geliebt habe, sollt ihr einander liebhaben. Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid: wenn ihr einander liebt.”
Schaut euch doch mal an, mit wem Jesus so abgehangen hat: Zolleinnehmer, Ehebrecherinnen, Huren, Leprakranke. Lauter Menschen, um die die religiösen Leute seiner Zeit gerne mal große Bogen geschlagen haben. Jesus hat sich nicht von religiösen Vorschriften abhalten lassen, Gemeinschaft mit Menschen zu haben. Ganz im Gegenteil.
Wir sind zu so viel mehr berufen, als uns über unsere menschlichen, religiösen Traditionen zu entzweien. Jesus ruft uns dazu auf, anderen Menschen so zu begegnen, wie er ihnen begegnet ist. In Liebe. Und ja, das ist schwer. Und ja, wir werden dabei wieder und wieder versagen. Aber wenn wir uns an Jesus festhalten, dann können wir Stück für Stück besser darin werden.
Ich will euch zwei Fragen mit auf den Weg geben, die mir helfen, religiöses Verhalten an mir zu erkennen.
1. Bin ich stolz?
Erhebe ich mich über mein Gegenüber? Fühle ich mich ihm überlegen? Tue ich das nur, um gesehen zu werden? Dann ist das ein Hinweis, dass es mir nur ums Ritual, um die Vorschrift geht.
Stehe ich z.B. nur hier oben, um von euch gesehen zu werden? Um euch allen zu zeigen, dass ich echt ein schlauer Typ bin? Das wäre fast passiert. Ich hab mich in meiner Vorbereitung so verrannt in Detailfragen und hab ein Predigtmonster geschrieben, das die meisten von euch zu Tode gelangweilt hätte. Ich fand das echt gut. Und ich finde es immer noch gut. Aber es passt nicht in diesen Gottesdienst. Am Ende wäre vielleicht das Einzige, das bei euch hängen geblieben wäre, dass dieser Mane ein schlauer Typ ist. Und selbst das wäre nur die halbe Wahrheit. Es geht nicht darum, meinen Stolz zu befriedigen, sondern dass wir gemeinsam an unserem Glauben arbeiten.
2. Denke ich schlecht über Leute?
Auch das ist ein Hinweis, dass ich religiös in einer Sache bin.
Erinnert ihr euch noch an das Beispiel mit den Tattoos und Piercings von vorher? Das war was, was mich wirklich schockiert und herausgefordert hat. Das ist aber auch für mich gefährlich ist: Verurteile ich die Leute, weil sie diese Sache anders sehen als ich? Dabei sind das doch auch Christen, wir haben doch am Ende dieselbe Vision.
Ich möchte euch ein anderes Beispiel geben: Wer von euch ist Fussball-Fan? Kurze Handzeichen?
Ich hab nicht viel Ahnung von Fussball, aber was haltet ihr von Bayern-Fans? Oder RB Leipzig-Fans? Das sind schon ein bisschen schlechtere Menschen, oder?
So kann das anfangen. Mit kleinen Verurteilungen, aus denen große Differenzen entstehen.
Wenn ich dann durch diese zwei Fragen merke, dass mich etwas davon abhält, anderen zu begegnen, Gemeinschaft mit ihnen zu haben, dann lass ich es lieber los. Dann geht es mir vielleicht eher um die Sache, als darum, was Gott will. Dann ist es doch besser zu sagen:
I’ll testify,
it’s time see my religion die!
Ich bezeuge,
es ist Zeit, dass meine Religion stirbt.